„Kreativ über bestehende Strukturen nachdenken“
Schulleiter Henrik Fass

8. Februar 2021

„Kreativ über bestehende Strukturen nachdenken“

Schulleiter Henrik Fass im Gespräch mit der FAZ über die Herausforderungen in der Corona-Pandemie /  

Internate haben in der Pandemie Vorteile gegenüber herkömmlichen Schulen. Doch auch sie können nicht alle Lücken schließen. Henrik Fass, Schulleiter der Schule Birklehof, erklärt, wie der Internatsalltag in der Krise aussieht. 

Herr Fass, wie sieht das Internatsleben aktuell auf dem Birklehof aus?

Natürlich haben wir auch im Internat keinen ganz normalen Alltag, aber wir sind sehr nahe am klassischen Schulalltag dran. Wir bieten Hybridunterricht an, damit Schüler, die aus unterschiedlichen Gründen nicht teilnehmen, den Unterricht über eine Kamera mitverfolgen und mitmachen können. Dazu gehören zum Beispiel Schüler, die aus einem Risikogebiet kommen und zunächst in Quarantäne gehen müssen, wenn sie anreisen. 

Die Klassenstufen und Häuser haben wir vorsorglich beim Essen und den Freizeitaktivitäten voneinander getrennt, damit wir nicht die gesamte Schule schließen müssen, falls ein Corona-Fall auftreten sollte. Zusätzlich messen wir täglich Fieber und fragen nach möglichen Symptomen. Sollte ein Schüler Symptome aufweisen, wird er in einem separaten Haus untergebracht, bis wir das Ergebnis eines PCR-Tests erhalten. Hat der Schüler kein Corona, wird er behandelt, bis er wieder in den Unterricht kann. Sollte er Corona haben, bleibt er bis zur Genesung separiert. Zum Glück hatten wir bisher noch keinen Corona-Fall in unserem Internat.

„Zum Glück hatten wir bisher noch keinen Corona-Fall in unserem Internat.“

Wie sieht der Hybridunterricht für die Schüler aus, die nicht am Präsenzunterricht teilnehmen können?  

Der Unterricht muss didaktisch anders aufgezogen werden, wenn wir Schüler über Video erreichen möchten. Acht Stunden Aufgaben am Bildschirm zu lösen ist nicht sinnvoll. Deshalb arbeiten wir vermehrt in Kleingruppen, halten Instruktionsphasen kurz, arbeiten projektorientiert und nutzen die Möglichkeiten, die das digitale Lernen bietet, bestmöglich aus. Hierzu zählt das kollaborative Arbeiten, bei dem Schüler gemeinsam ein Dokument erstellen. Bei dem Entstehungsprozess kann der Lehrer in eine Coachingrolle schlüpfen und sie als Lernbegleiter unterstützen.

„Im Internat können wir den Bewegungsradius nach außen einschränken und erhalten dadurch mehr Freiheiten nach innen.“

Welche Vorteile bietet ein Internat in der Corona-Krise gegenüber einer herkömmlichen Schule?

Im Internat können wir den Bewegungsradius nach außen einschränken und erhalten dadurch mehr Freiheiten nach innen. Je nach Fallzahlen ziehen wir quasi die Mauern hoch und gewinnen dadurch die Möglichkeit, sehr viel mehr Normalität zu bieten, was für die Entwicklung und Bildung der Jugendlichen bedeutsam ist. Die Probleme, die Social Distancing bei Jugendlichen verursachen, sind bei uns kein Thema. Die Schüler schlafen in den gewohnten Räumen und leben in den gleichen Häusern. Sie sind ständig von Gleichaltrigen umgeben. Deshalb bieten wir auch ein außerunterrichtliches Programm an – teils digital, teils analog. Hierzu zählen die Sportangebote, wofür wir natürlich die wunderschöne Umgebung, die der ländliche Raum im Schwarzwald bietet, und unsere musikalischen und kreativen Angebote und Räume nutzen.

Wie sieht denn das außerschulische Programm auf dem Birklehof aus?  

Im Internat bieten wir ein breites sport- und erlebnispädagogisches Programm an. Bewegung ist uns wichtig und kommt gerade während eines Lockdowns oft zu kurz. Aktuell setzen wir vor allem auf Individualsport an der frischen Luft. Momentan genießen wir im Schwarzwald eine wunderschöne Schneelandschaft, die zum Skifahren oder Rodeln einlädt. Zwar fahren aktuell regulär keine Lifte, Haushalte können Skilifte aber mieten. Das nutzen wir als Internat natürlich.  Wenn der Schnee nicht da ist, organisieren wir zum Beispiel Mountainbike-Touren durch den Schwarzwald oder gehen joggen. Beim Mannschaftssport bieten wir zurzeit Einzeltraining an, und wenn die Außenkontakte eingeschränkt sind, können wir auch vorsichtig den Teamsport ermöglichen.

„Wir haben nicht alles eingestellt, sondern Alternativen für das geschaffen, was wegen der Einschränkungen nicht mehr geht.“

Welche Chancen oder positiven Veränderungen haben sich durch die Pandemie Ihrer Meinung nach ergeben?

Über das Internat hinaus spüren wir, dass wir sorgsam über Kommunikation nachdenken müssen. Wie schafft man es, Regeln nicht per Order zu verkünden, sondern sie gemeinsam mit den Schülern zu gestalten? Wenn wir Regeln nur vorgeben, müssen wir als Erwachsene sie vor allem kontrollieren. Gelingt es uns, gemeinsam Regeln festzulegen, ist die Bereitwilligkeit der Jugendlichen deutlich größer, diese auch zu befolgen, weil ihnen der Sinn dahinter sehr viel klarer ist. Natürlich sind es immer noch Jugendliche, die entwicklungsbedingt ihre Grenzen austesten. In der jetzigen Phase beobachten wir Regelbrüche sehr viel seltener. Vielmehr beeindrucken uns die Kinder und Jugendlichen, wie reif sie mit diesen Anforderungen umgehen. Eine Krise fordert uns dazu auf, viel kreativer über bestehende Strukturen nachzudenken. Wir haben nicht alles eingestellt, sondern Alternativen für das geschaffen, was wegen der Einschränkungen nicht mehr geht. Darin sehe ich auch die große Chance in der Pandemie. Sie ist eine Einladung, noch mal kreativ über Schule nachzudenken.

Gibt es ein konkretes Beispiel, an dem sich diese Zusammenarbeit zeigt?

Ja, letztes Schuljahr war beispielsweise schnell klar, dass wir keinen Abiball durchführen können. Anstatt ihn abzusagen, setzten sich die Schüler zusammen und überlegten, welche Alternativen es geben könnte. Gemeinsam schrieben sie ein Konzept, wie es umsetzbar wäre, trotz Corona zusammen zu feiern. Durch solche Projekte erlernen die Schüler Organisationskompetenzen, Teamarbeit und die Kommunikation mit unterschiedlichen Gremien. Das sind wertvolle Ergänzungen zur schulischen Bildung, die für die Arbeitswelt später enorm wichtig sind.

„Uns ist es wichtig, alle Schüler im Blick zu behalten und in Einzelgesprächen zu klären, wie es ihnen gerade geht.“

Wie wichtig ist der Kontakt zwischen Lehrern und Schülern während der Krise, wenn die Schüler nicht ihre Eltern als direkte Ansprechpartner haben?

Uns ist es wichtig, stets alle Schüler im Blick zu behalten und in Einzelgesprächen zu klären, wie es ihnen gerade geht. Uns ist aufgefallen, dass die Sorgen, die mit Corona einhergehen, oft so groß sind, dass man das, was einen belastet, zur Sprache bringen muss. Dieses Miteinander Sprechen ist oft ein erster Weg zur Linderung. Bei uns wählt jeder Schüler seinen eigenen Vertrauenslehrer, dieser Mentor kümmert sich im Durchschnitt um acht Schüler. Diese Größe gewährleistet einen regelmäßigen Kontakt mit den Schülern und ihren Eltern. Was vor allem in schwierigen Zeiten von Bedeutung ist.

Wo sehen Sie derzeit die größte Lücke, die durch die Pandemie im Schulalltag entstanden ist?

Wir verkennen oft den kulturellen Aspekt von Bildung. Aktuell leidet unsere Schule darunter, dass Chöre nicht singen und Ensembles nicht miteinander musizieren dürfen. Musik-AGs oder die Sportangebote sind ebenso wichtig für die gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen wie informelle Begegnungen und ein guter, nachhaltiger Unterricht. Deshalb hoffe ich, dass wir zeitnah zur Normalität zurückkehren, damit auch jene Bereiche wieder stattfinden können, die man nicht ins Digitale übertragen kann.

Das Interview führte Kim Berg und ist erschienen in der F.A.Z. Verlagsbeilage „Internate und Privatschulen“ am 31.01.2021.

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